"Wie viel Zeit lässt man einem Kunstwerk, um seine Wirkung zu entfalten? Es dürfte keinen großen Unterschied ausmachen, ob man sich als Laie nur gelegentlich mit Kunst
befasst oder ob man professionell im Kunstbetrieb unterwegs ist: Urteile über die Qualität von Kunst werden in aller Regel sehr schnell, meist schon nach wenigen Augenblicken der Betrachtung gefällt
– und zwar sehr apodiktisch. Wie ich aus zahllosen Gesprächen mit anderen
Kunstbetrachtern weiß, gibt dabei ausgerechnet das subjektivste aller Kriterien häufig den Ausschlag: „Ich weiß, was mir gefällt und was mir nicht gefällt“. Es wäre bestimmt kein Fehler für die
ästhetische Selbsterziehung, sich immer wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass der eigene Geschmack, der sich ja im Laufe der Zeit ganz unsystematisch und aus vielen zufälligen Begegnungen heraus
gebildet hat, immer auch der Ausdruck der eigenen Limitation ist. Wer sich im Bereich der Kunst viel umgesehen hat, macht irgendwann die Erfahrung, mit der jeder Kunstkritiker zurechtkommen muss und
die der Philosoph Harry Lehmann in seinem jüngsten Buch „Gehaltsästhetik“ so beschrieben hat: „Die ästhetischen Erscheinungen, denen man begegnet, beginnen sich immer mehr zu ähneln und können immer weniger überraschen. Permanent wird man an
Beispiele erinnert, die man schon kennt.“
I.
Wenn man sich das alles vor Augen hält, werden die Arbeiten des in Köln lebenden Malers Hermann Kronenberg zu einem höchst interessanten Anwendungsfall für die Frage nach künstlerischen Qualitätskriterien. Denn bei der Begegnung seiner Ölgemälde kommt es immer wieder und völlig unvermeidlich zu Beobachtungen wie: Dieses Bild erinnert mich an... , diese Frauenfigur sieht aus wie... Wer sich nach solchen vollkommen berechtigten Vergleichen bereits abwendet, tut dies jedoch auf die Gefahr hin, das Entscheidende nicht gesehen, die Pointe nicht verstanden zu haben. Hermann Kronenberg ist ein Maler, der sich bewusst dagegen entschieden hat, eine neue, originelle und unverwechselbare malerische Sprache, ein Markenzeichen, eine Trade Mark zu entwickeln. Wir sind ja längst daran gewöhnt, im Feld der Kunst marktwirtschaftliche Begriffe zu verwenden, angehende Künstler bemühen sich schon während ihres Studiums darum, ein „Alleinstellungsmerkmal“ zu entwickeln und „Marktnischen“ aufzuspüren, in denen sie sich „positionieren“ können; überhaupt sprechen manche Galeristen ja schon gar nicht mehr von Künstlern und Künstlerinnen, sondern gleich von „Positionen“. Hermann Kronenbergs Arbeiten sind nicht unter den Bedingungen und dem Druck des Kunstmarktes entstanden...
Kronenberg nahm sich in seiner Malerei also die Freiheit, auf einen unverwechselbaren Malstil und auf einen wiedererkennbaren Motivkreis als „Position“ und „Alleinstellungsmerkmal“ zu verzichten. Ganz offensichtlich knüpft er in vielen seiner Bilder an die malerischen Idiome der Klassischen Moderne an. In seinen stark konturierten Figuren und den zum unteren Bildrand hin kippenden, sich ins Bodenlose öffnenden Bildräumen ist ganz oft der Bezug zu Max Beckmann zu spüren. Manche seiner Frauenfiguren zeigen den fedrigen, nervösen Duktus, wie man ihn von Ludwig Kirchner kennt. Gewisse Motive und Ornamentformen, aber auch bestimmte Farbkombinationen sind unschwer auf Henri Matisse zu beziehen. Viel weniger offensichtlich, aber für Kronenbergs Malerei ebenso unverzichtbar, ist die Auseinandersetzung mit Edgar Degas, ein Bezug, der sich nicht im Motivrepertoire seiner Gemälde niederschlägt, sondern vor allem in der Art der Hintergrundgestaltung. Insbesondere die Texturen von Degas’ Pastellen mit ihrer zarten, samtigen Haptik ist etwas, dem er mit den Oberflächen seiner Ölbilder nahezukommen versucht. Überschaut man die Gesamtheit von Kronenbergs Werk, dann lässt sich doch ein deutliches Ungleichgewicht in der Bezugnahme auf diese deutschen und französischen Vorbilder erkennen. Von Motivwahl und Stil her ist Kronenberg offensichtlich näher am Deutschen Expressionismus mit seiner Melancholie und existenziellen Problematik als bei der ornamentalen Leichtigkeit und mediterranen Lichtfülle eines Matisse. ..."
Zitiert aus "Annäherungen an die Malerei von Hermann Kronenberg" von Peter Lodermeyer