Hermann Kronenberg
  Hermann Kronenberg

Annäherungen an die Malerei von Hermann Kronenberg

von Peter Lodermeyer, aus "Hermann Kronenberg FARB(T)RÄUME. 1978 bis 2016", hrsg. von Galerie Manoel Nunes, Köln 2016, S. 6-9 übernommen. Der Text wurde unverändert übernommen, jedoch um die Abbildungen ergänzt.

Wie viel Zeit lässt man einem Kunstwerk, um seine Wirkung zu entfalten? Es dürfte keinen großen Unterschied ausmachen, ob man sich als Laie nur gelegentlich mit Kunst befasst oder ob man professionell im Kunstbetrieb unterwegs ist: Urteile über die Qualität von Kunst werden in aller Regel sehr schnell, meist schon nach wenigen Augenblicken der Betrachtung gefällt – und zwar sehr apodiktisch. Wie ich aus zahllosen Gesprächen mit anderen Kunstbetrachtern weiß, gibt dabei ausgerechnet das subjektivste aller Kriterien häufig den Ausschlag: „Ich weiß, was mir gefällt und was mir nicht gefällt“. Es wäre bestimmt kein Fehler für die ästhetische Selbsterziehung, sich immer wieder einmal in Erinnerung zu rufen, dass der eigene Geschmack, der sich ja im Laufe der Zeit ganz unsystematisch und aus vielen zufälligen Begegnungen heraus gebildet hat, immer auch der Ausdruck der eigenen Limitation ist. Wer sich im Bereich der Kunst viel umgesehen hat, macht irgendwann die Erfahrung, mit der jeder Kunstkritiker zurechtkommen muss und die der Philosoph Harry Lehmann in seinem jüngsten Buch „Gehaltsästhetik“ so beschrieben hat: „Die ästhetischen Erscheinungen, denen man begegnet, beginnen sich immer mehr zu ähneln und können immer weniger überraschen. Permanent wird man an Beispiele erinnert, die man schon kennt.“

I.

Wenn man sich das alles vor Augen hält, werden die Arbeiten des in Köln lebenden Malers Hermann Kronenberg zu einem höchst interessanten Anwendungsfall für die Frage nach künstlerischen Qualitätskriterien. Denn bei der Begegnung seiner Ölgemälde kommt es immer wieder und völlig unvermeidlich zu Beobachtungen wie: Dieses Bild erinnert mich an... , diese Frauenfigur sieht aus wie... Wer sich nach solchen vollkommen berechtigten Vergleichen bereits abwendet, tut dies jedoch auf die Gefahr hin, das Entscheidende nicht gesehen, die Pointe nicht verstanden zu haben. Hermann Kronenberg ist ein Maler, der sich bewusst dagegen entschieden hat, eine neue, originelle und unverwechselbare malerische Sprache, ein Markenzeichen, eine Trade Mark zu entwickeln. Wir sind ja längst daran gewöhnt, im Feld der Kunst marktwirtschaftliche Begriffe zu verwenden, angehende Künstler bemühen sich schon während ihres Studiums darum, ein „Alleinstellungsmerkmal“ zu entwickeln und „Marktnischen“ aufzuspüren, in denen sie sich „positionieren“ können; überhaupt sprechen manche Galeristen ja schon gar nicht mehr von Künstlern und Künstlerinnen, sondern gleich von „Positionen“. Hermann Kronenbergs Arbeiten sind nicht unter den Bedingungen und dem Druck des Kunstmarktes entstanden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Informatiker. Daher aber gab es auch längere Zeiten des Stillstands in seiner Malerei. Seine Kunst hat sich nicht in einem gleichmäßigen Prozess entwickelt, sondern weist Sprünge, Diskontinuitäten und Leerstellen auf – was in dem vorliegenden Katalog auch ganz offen aufgezeigt wird.

 

Kronenberg nahm sich in seiner Malerei also die Freiheit, auf einen unverwechselbaren Malstil und auf einen wiedererkennbaren Motivkreis als „Position“ und „Alleinstellungsmerkmal“ zu verzichten. Ganz offensichtlich knüpft er in vielen seiner Bilder an die malerischen Idiome der Klassischen Moderne an. In seinen stark konturierten Figuren und den zum unteren Bildrand hin kippenden, sich ins Bodenlose öffnenden Bildräumen ist ganz oft der Bezug zu Max Beckmann zu spüren. Manche seiner Frauenfiguren zeigen den fedrigen, nervösen Duktus, wie man ihn von Ludwig Kirchner kennt. Gewisse Motive und Ornamentformen, aber auch bestimmte Farbkombinationen sind unschwer auf Henri Matisse zu beziehen. Viel weniger offensichtlich, aber für Kronenbergs Malerei ebenso unverzichtbar, ist die Auseinandersetzung mit Edgar Degas, ein Bezug, der sich nicht im Motivrepertoire seiner Gemälde niederschlägt, sondern vor allem in der Art der Hintergrundgestaltung. Insbesondere die Texturen von Degas’ Pastellen mit ihrer zarten, samtigen Haptik ist etwas, dem er mit den Oberflächen seiner Ölbilder nahezukommen versucht. Überschaut man die Gesamtheit von Kronenbergs Werk, dann lässt sich doch ein deutliches Ungleichgewicht in der Bezugnahme auf diese deutschen und französischen Vorbilder erkennen. Von Motivwahl und Stil her ist Kronenberg offensichtlich näher am Deutschen Expressionismus mit seiner Melancholie und existenziellen Problematik als bei der ornamentalen Leichtigkeit und mediterranen Lichtfülle eines Matisse.

 

II.

Auf die Bemerkung eines Kritikers hin, dass manche Passagen seiner 1. Symphonie doch sehr merkwürdig nach Beethoven klängen, soll Johannes Brahms einst geantwortet haben: „Jawohl, und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört.“ Der gereizte Ton ist nachvollziehbar, denn selbstverständlich war der Anklang an Beethoven deutlich genug, man sollte ihn ja schließlich erkennen. Nicht dass es so klang wie Beethoven, war die Frage, sondern das Warum, die künstlerische Intention dieser offensichtlichen Bezugnahme. Auch wenn hier in keiner Weise Malerei mit Musik oder Hermann Kronenberg mit Johannes Brahms verglichen werden soll – das Problem ist ein ähnliches. Ein allzu voreiliger Verdacht des Epigonalen übersieht die eigentliche künstlerische Absicht, übersieht vor allem, dass das Eigene und Neue sich im Zitat wie unter einer Maske verbirgt. Und außerdem unterschätzt man dabei, wie täuschbar die eigene Erinnerung ist, auf welch wackligen Füßen Vergleiche – „das sieht ja aus wie...“ – tatsächlich oft stehen. Ich werde darauf zurückkommen.

 

Kronenbergs künstlerische Anfänge liegen in den späten 1970er-Jahren, seine ersten Ausstellungen folgten in den Achtzigern. Es ist dies übrigens genau jene Zeit, in der sich in Kunst und Kunsttheorie das Bewusstsein eines Epochenschnitts auszubreiten begann, eines Wandels, für den sich bald der Begriff der „Postmoderne“ durchsetzte. Der Fortschrittsglaube, der den Gang der Moderne lange Zeit als unhinterfragtes Ideologem bestimmt hatte, fing an seine Überzeugungskraft einzubüßen. Die Logik der Überbietung, die sich in einem immer rascheren Wechsel der Kunststile zeigte, der oft noch mit Manifesten und Theorien unterfütterten Kunst-Ismen, erschöpfte sich in ihrem vorgeblichen Wahrheitsanspruch. Postmoderne bedeutete, diese Logik zu hinterfragen, den Rückgriff auf die Tradition wieder zuzulassen und den viel beschworenen Materialfortschritt durch ein variantenreiches Spiel mit Zitaten und Aneignungen abzulösen. Am radikalsten geschah dies bei den Vertretern der sogenannten Appropriation Art, die fremde Kunstwerke zum Teil mit nur minimalen Abweichungen kopierten und den Akzent auf Kontext, kunsthistorische Anspielung und die Revision moderner Kunsttopoi legten statt auf Originalität. In seinem 1999 erstmals veröffentlichten Essay „Über das Neue“ konnte der Kunsttheoretiker Boris Groys schon gleich zu Beginn behaupten: „Kein Thema scheint in unserer postmodern genannten Zeit so unzeitgemäß zu sein wie das Neue: Das Streben nach dem Neuen wird gewöhnlich assoziiert mit Utopie, mit der Hoffnung auf einen neuen historischen Anfang und auf radikale Veränderung der menschlichen Existenzbedingungen in der Zukunft. Doch genau diese Hoffnung scheint heute fast vollständig verlorengegangen zu sein.“

Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3

III.

Hermann Kronenberg ist kein Postmoderner und erst recht kein Appropriation Artist, und doch trägt sein Spiel mit Zitaten und Allusionen auf Maler wie Beckmann oder Matisse unverkennbar postmoderne Züge – paradoxerweise gerade deshalb, weil es sich dabei um „anachronistische“ Bezüge zur Moderne handelt. Und auch die Adaption von Stilelementen bis hin zur Mimikry, wie sie schon überraschend früh, etwa in „La place de la justice“ von 1979 (Abb. 1) und einem Bild ohne Titel von 1981 (Abb. 2) zu beobachten ist, wo er sich die Stilelemente der Pittura metafisca Giorgio de Chiricos bzw. Paul Klees „Hauptweg und Nebenwege“ anverwandelt, sind interessante Fälle künstlerischer Aneignung. Kronenberg, so scheint es, bedarf der Strategie von Rückgriffen und Anspielungen, der direkten Auseinandersetzung mit der kanonisierten Malerei der Klassischen Moderne, um seine eigenen künstlerischen Aussagen zu artikulieren. Seine Arbeit ist jedoch kein konzeptuelles Spiel mit Kontexten und Verweisen, sondern die Durcharbeitung persönlicher, existenzieller Themen mit gewissen Mitteln der malerischen Moderne. Wie sehr seine Motive aus der direkten Erlebnis- und Erfahrungswelt entspringen, wird schon durch das Vorherrschen der intimen Gattungen Stillleben, Porträt, Akt und Selbstbildnis erahnbar. Dass in den Titeln zahlreicher Frauenbilder Eigennamen genannt werden – mehrfach der Name Sabine, noch öfter Stephani, hinter der sich die Lebensgefährtin des Malers verbirgt – verweist unmittelbar auf die Lebenswelt des Künstlers selbst.

 

Ein Bild wie das 2016 gemalte „Stillleben mit Tablas“ (Abb. 3) macht deutlich, wie ein Arrangement von Einzelmotiven sich im Stilgewand eines Beckmann'schen Stilllebens mit den starken Konturlinien und der prekär in die Fläche gekippten Tischplatte in ein feinsinniges Psychogramm verwandelt. Auffallend ist die Doppelung der Motive, die jeweils signifikante Unterschiede aufweisen: die Tablas, indische Trommeln, eine kleine, eine große (traditionell Dayan und Bayan genannt); zwei Früchte, rot und gelb, vielleicht Apfel und Zitrone; zwei schräg auseinanderstrebende, unterschiedlich lange rote Kerzen auf einem Teller, nur eine davon angezündet. Allein der kippelig auf der Tischkante und über den linken Bildrand hinausragende gelbe Tangoschuh mit hohem Absatz bleibt ein Solitär. Die Motivpaare und das Rot der Kerzen verweisen unmissverständlich auf einen Beziehungskontext. Die Doppelungen zeigen Unterschiedlichkeit und Verbundenheit zugleich, ganz auffällig ist dies bei den beiden Trommeln, die durch einen hölzernen Steg miteinander verbunden sind, was bei realen Tablas keineswegs der Fall ist. Der Tanzschuh ohne Schnürsenkel, das Auseinanderstreben der Kerzen, der Kontrast zwischen der flächigen Verbundenheit der Motive bei gleichzeitiger Auflösung des Bildraums legen es nahe, in diesem Stillleben ein verstecktes Porträt einer ebenso innigen wie spannungsvollen Paarbeziehung zu sehen.

Abbildung 4
Abbildung 5
Abbildung 6
Abbildung 7

IV.

Den persönlichen oder autobiografischen Ausgangspunkt der Malerei von Hermann Kronenberg erkennt man unmittelbar an der Prädominanz von Porträts und Selbstporträts in seinem Werk. Eine Vielzahl von Bildern bezieht sich auf seine Lebensgefährtin Stephani. Ihre Physiognomie ist auf zahlreichen Porträt- und Aktbildern zu finden, auch wenn ihr Name in den Titeln nicht immer genannt ist. Unterschiedliche Stilmittel wie die Rekurse auf Porträts von Matisse und Beckmann erlauben es Kronenberg, immer wieder neue Ausdrucksnuancen zu artikulieren. Es lohnt sich, den „Frauenkopf mit blauem Haar“ (Abb. 4) von 1990 direkt mit Matisses 1905 gemaltem Porträt seiner Frau zu vergleichen. Was Bildausschnitt, einzelne Motive wie den blau-schwarzen Haarhelm und die farbige Aufteilung des Hintergrundes angeht, ist der Bezug zu Matisse offensichtlich. Doch in Ausdruck, Malweise und Farbbehandlung zeigen sich signifikante Unterschiede. Es scheint, als nähme Kronenberg die „Madame Matisse“, um sich daran zu messen, um einen Einstieg in die eigene Bildthematik zu finden. Es geht nicht um Imitation oder epigonales Nachahmen – sehr bewusst verzichtet Kronenberg darauf, den berühmten grünen Streifen („la raye verte“) auf dem Nasenrücken zu wiederholen. In der älteren Kunsttheorie hätte man dieses Wetteifern mit einem großen Vorbild wohl Aemulatio genannt.

 

In „Stephani im blauen Mantel“ (Abb. 5) von 1987 ist es wieder eher Max Beckmann, an dessen Stil sich Kronenberg abarbeitet. Das auffälligste Detail des Bildes sind die drei wie Mondsicheln am rechten Bildrand hängenden blauen Formen, für die sich keine plausible Erklärung finden lässt. Ihre gebogene Form korrespondiert mit dem Schwung der asymmetrischen Haarfrisur der Porträtierten. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass sich die Mond-Formen aus einer formalen Reduktion ergeben haben. Der Bildhintergrund lässt zahlreiche Spuren von Übermalungen erkennen. So haben sich die Monde als Formfragmente ergeben. Das mehrfache Übermalen und Reduzieren von Motiven ist eine typische Arbeitsmethode von Hermann Kronenberg. Sie lässt sich auch auf vielen anderen Bildern nachweisen, so etwa auch bei dem 1987 gemalten Porträt „Stephani (Paris 1986)“ (Abb. 6), wo sich wiederum am rechten Bildrand ein zwischen der hellen Übermalung übriggebliebene F-förmige braune Struktur findet. Auch hier gibt es keine plausible gegenständliche Erklärung für das Motiv. Doch kommt dieser Form für die Akzentuierung der gedankenverlorenen, melancholisch wirkenden Frauenfigur eine entscheidende Rolle zu. Durch einen gebogenen Pinselschwung scheint die Form absurderweise mit Kopf und Schulter der Frau verbunden zu sein. Dadurch wird sie nicht nur zu einem formalen Gegengewicht, sondern zu einem abstrakten psychologischen Moment, wie ein nicht benennbares, aber wirksames Etwas, eine Art Visualisierung der Gedanken- und Gefühlswelt der Porträtierten.

 

V.

An dem großen, 1994 begonnenen und 2016 vollständig überarbeiteten Bild „Träumender Akt“ (Abb. 7) kann man gut erkennen, wie Kronenbergs Aemulatio, seine bewusste Anverwandlung moderner Stilelemente funktioniert – und wie sie den Betrachter auf falsche Fährten lockt. Das kann ich an meiner eigenen Reaktion auf dieses Bild beobachten. Beim ersten Betrachten hielt ich „träumender Akt“ für ein direktes Zitat einer der Odalisken von Henri Matisse. Doch wenn man sich die entsprechenden Bilder wieder anschaut, findet man überhaupt kein direktes Vorbild. Das Motiv einer auf einem mit Ornamenten verzierten Teppich sitzenden Frau ist zwar unzweifelhaft ähnlich, aber die vermeintliche direkte Übernahme existiert nicht. Der Grund für diese falsche Vermutung bzw. diesen Erinnerungsfehler mag das Goldfischglas am linken Bildrand sein, das Kronenberg wie ein Lockmittel ins Bild gesetzt hat. Es ruft unmittelbar Formulierungen dieses Motivs in zahlreichen Stillleben und Interieurbildern von Matisse in Erinnerung. Kronenbergs Gemälde setzen ein komplexes Spiel mit Zitaten und Pseudo-Zitaten, mit Ähnlichkeit und Differenz, mit echten und vermeintlichen Erinnerungen ins Spiel. Selbstverständlich finden sich auch für das eigentümlich karge Landschaftsbild im Bild „Träumender Akt“ mit den vereinzelt aus dem Bild ragenden Felsspitzen kein Vorbild bei Matisse – und auch nicht für die rechts an den roten Vorhang fassenden Finger, welche die Anwesenheit einer zweiten Person andeuten: eine offensichtliche Anspielung auf das alte Motiv des Voyeurs, wie es in der älteren Kunst vor allem aus der Ikonografie der „Susanna im Bade“ bekannt ist. Kronenbergs Rückbezug auf die Malerei der Moderne erscheint, je mehr man sich in die Einzelwerke vertieft, wie ein Mittel zum Hineinfinden in die Bilder, ein Hilfsinstrument, das man, wenn man „im Bilde“ ist, wie die berühmte Leiter in Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ wegwerfen kann, nachdem man an ihr hochgestiegen ist, weil man sich dann auf der Ebene der spezifischen Bildlogik und nicht der des kunsthistorischen Verweissystems befindet.

Abbildung 8
Abbildung 9

VI.

Auch wenn das Sujet des weiblichen Akts eine wichtige Rolle in Kronenbergs Werk einnimmt, finden sich in seinem Werk doch auch einige bemerkenswerte männliche Pendants. Der „Männliche Rückenakt vor Spiegel“ von 1992 (Abb. 8) ist dafür ein markantes Beispiel. Die gedrungene Gestalt mit der auffällig über den Rücken laufenden Schattenfurche wird bei längerer Betrachtung zunehmend zu einem Rätsel. Warum packt die Figur mit ihrer rechten Faust so kraftvoll an den grünen Rahmen des schweren ovalen Standspiegels? Warum vor allem sieht man kein Spiegelbild des Mannes, wohl aber die Spiegelung einer vertikalen Struktur, einer Stange oder eines Pfostens, dessen Präsenz man sich nicht erklären kann. Die Falten des Tuchs oder Hemds, das die Figur an ihrer linken Hand herabhängen lässt, weisen paradoxerweise nicht nach oben, sondern züngeln nach oben wie bei einem Feuer. Wie in vielen anderen Bildern Hermann Kronenbergs auch, scheint der Bildraum sich nach unten hin zu verflüchtigen und in die Fläche zu kippen, die starke Dreiecksform der Teppiche erzeugt einen starken vektoriellen Zug nach unten, ins Bodenlose. Erklärt das den Griff an den Spiegelrahmen? Versucht der Mann sich durch den (scheiternden) Akt der Selbstvergewisserung im Spiegel selbst Halt zu geben?

 

Eine ähnliche psychologische Aufladung des Motivs kommt in „Bad II“ von 1985 (Abb. 9) zum Ausdruck. In Nahsicht ist dort ein das Bildformat vollständig ausfüllender Mann zu sehen, der in einer Badewanne sitzt und sich selbst befriedigt. Seine linke Faust umklammert sein Glied, die rote, entblößte Eichel wird zum Aufmerksamkeitszentrum des Bildes – auch für die Figur selbst, deren Blick zur Leibesmitte geht, weshalb das nach unten gerichtete Gesicht nur fragmentiert und in starker perspektivischer Verzerrung zu sehen ist. Wie ein lustvoller Akt des Selbstgenusses wirkt das Tun des Mannes aber keineswegs. Wenn man die paradoxe Räumlichkeit des Bildes genauer ins Auge fasst, die Tatsache, dass die Figur in den Bildraum hineingestopft zu sein scheint, beschnitten an den Rändern, einen Fuß im Wasser, den anderen seltsamerweise im Trockenen, der rechte Arm der Figur wer weiß wo am linken oberen Bildrand verloren, kommt man kaum umhin, diesen klaustrophobischen Bildraum als eine starke Metapher für existenzielle Beschränkungen und Einengungen zu deuten. In seiner bedrückten und eingeengten Lage scheint der Onanist an sich selbst Halt finden zu wollen, in einem autoerotischen Akt, dem jede Erotik abhanden gekommen ist.

Abbildung 10
Abbildung 11
Abbildung 12
Abbildung 13

VII

Auf ganz andere Weise kommt das Thema der Selbstvergewisserung in Kronenbergs Selbstbildnissen zum Ausdruck, unverkennbar bezogen auf den Künstler selbst in seinem Selbstverständnis als Maler. Schon im frühesten der hier abgebildeten sieben Selbstporträts, das „Selbstbildnis (ohne Hände)“ von 1978 (Abb. 10), wird diese Thematik eindrucksvoll umgesetzt. Der frontalisierten nackten Halbfigur mit auffallend gelbem Hautton und manieristisch gestreckten Körperproportionen scheint der rechte Arm oberhalb des Ellenbogens amputiert zu sein. Der andere Unterarm ist vom unteren Bildrand brutal abgeschnitten. Dieses drastische Motiv der körperlichen Beeinträchtigung ruft den alten kunsttheoretischen Topos vom „Raphael ohne Hände“ in Erinnerung, der auf eine Zeile in Gotthold Ephraims Lessing Theaterstück „Emilia Galotti“ zurückgeht: „Oder meinen Sie, Prinz, dass Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?“ Kann man ein Maler sein, wenn man keine Hände hat, sprich: kein Werk schaffen kann? Die Frage wird in ihrer existenziellen Dringlichkeit verständlich, wenn man bedenkt, dass Kronenberg im Entstehungsjahr dieses Bildes, 1978, an der Technischen Hochschule Karlsruhe ein zweites Informatikstudium begann. Die berufliche Ausbildung und die Berufung zum Maler lagen in ernstem Konflikt miteinander, so wird die kritische Selbstbefragung im Bild zum Ausdruck eines befürchteten Unvermögens, sein malerisches Potenzial zur Entfaltung bringen zu können.

 

Es ist hier nicht der Ort, alle Selbstbildnisse Kronenbergs auf das Motiv der Selbstvergewisserung als Maler hin zu befragen. So muss es hier genügen, auf das „Selbstbildnis mit roter Jacke“ von 1987 (Abb. 11) und das ein Jahr später gemalte „Selbstbildnis (im blauen Hemd)“ (Abb. 12) zu verweisen. In beiden Bildern weisen die Motive von Spann- bzw. Bilderrahmen unmittelbar auf die Malerei als Bezugsgröße dieser Selbstbildnisse hin. In dem früheren Bild wird der Kopf des Malers von einem goldenen Rahmen eingefasst und damit – um es mit dem Kunsthistoriker Max Imdahl zu sagen – „auratisch nobilitiert“. Die nachdenkliche Geste des auf die Hand gestützten Kopfes, das uralte Motiv des gestus melancolicus, aktualisiert den schon in der Antike bekannten Topos vom Künstler als Melancholiker. Einen anderen Akzent setzt das „Selbstbildnis (im blauen Hemd)“. Von seinen Bildern umgeben präsentiert sich der Maler hier offenbar in seinem Atelier. Das auffälligste Stilmerkmal ist dabei die ungewöhnliche Lichtregie. Das von links unten her einfallende Licht hellt das Kinn, die Unterseite der Nase und die Brauenbögen auf, sodass das Gesicht einen leicht verfremdeten, im Wortsinne erleuchteten Ausdruck annimmt. Die vom Lichtglanz umstrahlten Augen blicken am Betrachter vorbei, als richteten sie sich auf ein Objekt in weiter Ferne – der Maler als Visionär, der sonst unsichtbare Dinge in den Blick nimmt.

 

Das ungewöhnlichste Selbstporträt Kronenbergs entstand noch früher, 1986, und heißt „Selbstbildnis (verborgen)“ (Abb. 13). Ein unmittelbarer Bezug auf das Metier des Malers ist hier nicht zu erkennen. Wie man dem Bild bei genauerer Betrachtung ansieht, ist es stark überarbeitet worden. Das endgültige Motiv resultiert aus einem langen Reduktionsprozess, in dem Kronenberg zahlreiche Details revidiert, verändert, zurückgenommen hat – unter anderem auch die Haare der Männerfigur. Das Ergebnis ist ein ungemein intensives Brustbild eines kahlen Mannes im Halbprofil, der nach links aus dem Bild schaut. Ein einigermaßen runder Spiegel mit orangefarbenem Rahmen ragt als formales Pendant zu dem Glatzkopf über den rechten Bildrand hinaus. Im Spiegelbild ist überraschenderweise jedoch der Mann, der nur mit Mühe mit dem Maler auf den bereits besprochenen Selbstbildnissen zu identifizieren ist, nicht zu sehen, sondern nur ein brauner, vertikaler Streifen, vielleicht ein Türpfosten. Das Überraschendste an dieser verfremdenden Selbstdarstellung ist die androgyne Erscheinung des Dargestellten, eine Zweigeschlechtlichkeit, die sich bei längerer Betrachtung immer deutlicher aufdrängt. Auffallend die weichen, femininen Gesichtszüge und die ausgeprägten Brüste, die in bemerkenswertem Kontrast zu der kräftigen, großen Hand stehen, mit der die Person ihren rechten Oberarm umklammert. Den Titel „Selbstbildnis (verborgen)“ mag man sich daraus erklären, dass der Künstler im Laufe der langwierigen Arbeit an diesem Bild eine verborgene „weibliche“ Seite an sich entdeckt und ins Bild gesetzt hat. So wird dieses Selbstporträt zu einem Dokument für eine Selbstwahrnehmung, die sich von der rein visuellen Darstellung abwendet und zum Ausdruck einer inneren Selbstwahrnehmung drängt.

 

Peter Lodermeyer, geb. 1962, ist promovierter Kunsthistoriker, Kritiker, freier Autor und Kurator mit Wohnsitz in Bonn. In seinen Texten befasst er sich insbesondere mit neueren Tendenzen in Zeichnung und Skulptur, mit Farbmalerei, Lichtkunst und mit Fragen zur Kunsttheorie und Kunstkritik. Als Buchpublikation erschienen zuletzt seine Monographien zu den Arbeiten mit Licht von Jan van Munster und zur Malerei von Rainer Gross.

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